Whistleblowing durch Arbeitnehmer

EGMR, Urteil vom 21.7.2011 – Az.: 28274/08

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat mit einem Urteil vom 21.07.2011 einer Pflegekraft eine Entschädigung zugesprochen, die von ihrem Arbeitgeber (Vivantes) gekündigt worden war, weil sie auf Pflegemissstände öffentlich aufmerksam und ihn wegen Betruges im besonders schweren Fall angezeigt hatte. Das Verfahren wegen Betruges war ca. drei Jahre später von der Staatsanwaltschaft eingestellt worden.

Die Offenlegung von Missständen in Unternehmen oder Institutionen durch einen Arbeitnehmer (auch Whistleblowing genannt) fällt in den Geltungsbereich von Art. 10 EMRK. Der EGMR sah die Altenpflegerin durch die Kündigung in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung aus dieser Vorschrift verletzt. Die, im Einzelfall durchaus einmal gerechtfertigte, Kündigung eines Arbeitsverhältnisses wegen einer Strafanzeige eines Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber aufgrund interner Missstände stellt demzufolge einen Eingriff in das Recht des Arbeitnehmers auf freie Meinungsäußerung dar. Die deutschen Gerichte hätten nach Auffassung des EGMR zwischen dem legitimen Interesse des Arbeitgebers an der Wahrung seines Rufs und dem Recht der Arbeitnehmerin auf freie Meinungsäußerung keinen angemessenen Ausgleich zugunsten der Arbeitnehmerin geschaffen.

Der EGMR sah ein öffentliches Interesse an den von der Arbeitnehmerin offen gelegten mutmaßlichen Pflegemängeln als zweifellos gegeben an. Es bestehe insbesondere deshalb, weil die betroffenen Patienten möglicherweise nicht selbst auf die Missstände aufmerksam machen konnten. Nach Auffassung des EGMR musste die Arbeitnehmerin, und dies ist wohl das eigentlich Überraschende, nicht einmal mehr eine weitere innerbetriebliche Klärung versuchen, obwohl sie ihrem Arbeitgeber zum ersten Mal in der Strafanzeige Betrug in einem besonders schweren Fall vorgeworfen hatte. Auch die Tatsache, dass die Ermittlungen von der Staatsanwaltschaft später eingestellt wurden spielte insoweit keine maßgebliche Rolle bei der Entscheidung des EGMR.

Der EGMR hat der betroffenen Arbeitnehmerin aus diesen Gründen nach Art. 41 EMRK eine Entschädigung von insgesamt 15.000 EUR zugesprochen.

 

 

Stephan Kuletzki

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht